Baum des Lebens

Ein Baum ist ein Abbild des Lebens.
Er wächst, fühlt sich unwohl
und heilt sich selbst.
Ist er erschöpft, stirbt er.

Ein Baum spiegelt das Sein.
Er wandelt und verändert sich, stellt sich selbst wieder her und bleibt doch immer der Gleiche.

Ein Baum gibt Leben.
Er ist beständig und gewährt Leben
und sein Eigenes bleibt unvermindert.

Bäume geben mir alles, was ich brauche. Ich habe dem Baum nicht mehr zu geben, als meinen Lobgesang und meinen Respekt.

Schaue ich einen Baum an,
so denke ich daran, dass…

Der Apfelbaum meinen Hunger stillen kann,

Der Ahorn meinen Durst löschen kann,

Die Fichte meine Wunden und Schnitte heilen kann,

Die Rinde der Birke mein Heim bilden kann,

mein Kanu und meine Gefäße formen kann,

Die Haut der Birke die Bilder aufnehmen kann, die ich male,

Die Balsamienraine mich vor dem Wind beschirmen können,

Die Früchte des Weinstocks meinen Federn Farbe geben können.

Der Hickory biegt sich zu meinem Bogen,

und das Holz des Kirschbaums wird zum Schaft des Pfeils.

Der Farn kann meinen Körper im Schlaf betten,

Die Linde kann die Puppe meiner Tochter werden,

Die Esche, als Schneeschuh, kann mich über den Schnee tragen,

Der Tabak kann Meine Gebete zu Gott tragen,

Das Süßgras kann Meine Hütte mit Duft erfüllen,

Die Wurzel des Immergrün kann meinen Schlitten und mein Boot zusammenhalten,

Stumpf und Zweig können meine Hütte wärmen,

Rose und Gänseblümchen können die Seele der Frau bewegen,

Die Blätter im Wind können meinen Geist öffnen.

Anmerkung
Die Alten sagten, Kitche Manitu habe die Welt in einer bestimmten Reihenfolge erschaffen. Zuerst die stoffliche Welt von Sonne, Mond, Erde und Sternen; danach die Pflanzenwelt der Bäume, Blumen, Gräser und Früchte. Die Pflanzen waren also früher da als die Tiere und die Anishnabeg. Sie konnten allein bestehen; sie waren für ihr Leben oder Wohlergehen nicht auf andere Wesen angewiesen.

Quelle: Johnston Basil, Und Manitu erschuf die Welt: Mythen und Visionen der Ojibwa. Diederichs, Köln, 1984, 40 f.

Mythen und Visionen der Ojibwa

Basil Jahnston ist ein gebürtiger Ojibwa, Angehöriger einer der großen nordamerikanischen Indianerstämme, die im Gebiet der Großen Seen im Norden der USA und im Süden Kanadas zu Hause sind. Er gehört zum „Cape Croker Indian Reserve“ und arbeitet heute in der Abteilung für Ethnologie des Royal Ontario Museums in Toronto. Zu seinen Veröffentlichen gehört auch das Buch „Großer Weißer Falke“.