Zu Beginn der Zeit lebte in einem Seneca-Dorf ein Junge der keine Eltern mehr hatte. Mutter und Vater waren gestorben, als er erst einige Wochen alt war. Eine Bekannte seiner Eltern sorgte seitdem gut für ihn und gab ihm einen Namen der übersetzt „Waise“ bedeutet. Während die Jahreszeiten kamen und gingen, so wurde aus dem einst kleinen Jungen, ein prächtiger und kräftiger Bursche. Als die Zeit gekommen war gab ihm seine Pflegemutter Pfeil und Bogen, damit er die Kunst des Jagens lernte. Sie sagte: „Gehe morgen in der Früh hinaus in den Wald und erlege so viele Vögel wie Du kannst.“ Mit diesen Worten bereitete sie ein Mahl zu, das aus gerösteten Maiskörnern bestand und legte ein paar Körner beseite. Ein Teil der zurückgelegten Körner wurde am nächsten Morgen vom Waisen gegessen, der andere als Proviant in ein Stück Hirschleder gewickelt und mitgenommen.
Der Waisenjunge fand jagdbares Wild im Überfluss und als er sich auf den Heimweg machte, hatte er eine ganze Menge Vögel erledigt. Seine Pflegemutter war sehr stolz und sagte: „Du musst Deine Gedanken bei der Jagd zur Ruhe kommen lassen und Dich immer aufs Äußerste anstrengen. Wenn Du diese Regeln befolgst, wird aus Dir eines Tages ein guter Jäger werden und Dir wird es nie an Etwas fehlen.“
Und so zog der Waisenjunge jeden Tag aufs Neue mit einem Bündel gerösteter Maiskörner los und brachte immer mehr Vögel heim als am Tag zuvor. Doch am zehnten Tag verlor seine Sehne an Spannkraft und er suchte sich einen geeigneten Platz zum Nachspannen. Nach kurzer Zeit fiel ihm eine Lichtung mit einem flachen, runden Stein ins Auge.
Er setze sich darauf, wickelte die Sehne ab, nahm sie in den Mund, um sie aufzuweichen, und ordnete dann die Federn am Pfeil. Kurz bevor er das vollbracht hatte, sprach eine Stimme zu ihm: „Soll ich Dir eine Geschiche erzählen?“ Verwundert blickte der Junge um sich und als er niemanden sah, setzte er seine Tätigkeit fort. Doch die Stimme lies nicht locker: „Soll ich Dir eine Geschichte erzählen?“ Wieder unterbrach der Junge seine Arbeit um zu sehen wer mit ihm sprach. Er schaute nach Norden, nach Osten, nach Süden und Westen – er ging sogar einmal um den Stein herum – doch er sah niemanden. Er setzte sich wieder, arbeitete aber nicht weiter, um zu beobachten, wer hier seinen Spott mit ihm trieb.
Er wartete geduldig bis die Stimme ein drittes Mal zu ihm sprach:“Soll ich Dir eine Geschichte erzählen?“. Er stellte fest, dass sie aus dem Stein kam und antwortete: „Was soll das bedeuten? Was heißt *Geschichten erzählen*?“ Der Stein erwiderte höflich: “ Es bedeutet, dass man sagt, was sich vor langer Zeit ereignet hat. Wenn Du mir Deine Vögel gibst, so erzähle ich Dir Geschichten.“
Der Junge legte die Vögel neben den Stein und dieser begann sogleich zu erzählen, was sich vor langer Zeit ereignet hatte. Eine Geschichte folgte der Anderen und die Sonne begann zu verschwinden. Da sagte der Stein: „Jetzt wollen wir uns ausruhen. Komm morgen wieder.“ Wenn man Dich nach Deinen Vögeln fragt, so sage nur, Du habest vorher so viele getötet, dass sie jetzt knapp geworden seien und Du weit gehen musst, um noch welche zu finden.“ Auf dem Heimweg erlegte der Waisenjunge noch eine Hand voll Vögel und als ihn die Mutter fragte, warum es so wenige seien, antwortete er, sie seien knapp geworden und er musste tief in den Wald hinen um welche zu finden. Am nächsten Morgen zog er wieder los und versank in Gedanken. Er dachte über die Geschichten nach, die ihm der Stein erzählt hatte und entschloss sich, nur Vögel zu erlegen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe niederließen. Dann ging er ohne weiteren Aufenthalt zur Waldlichtung, legte die Vögel neben den Stein und sagte: „Hier bin ich wieder. Da sind Deine Vögel.
Jetzt erzähle mir Geschichten.“ Wieder folgte Geschichte auf Geschichte und als der Abend hereinbrach sagte der Stein: „Jetzt wollen wir uns wieder ausruhen. Komme morgen wieder.“ Da es schon sehr spät war, fand der Junge auf dem Heimweg kaum noch Vögel.
Seine Mutter wurde misstrauisch und beauftragte einen anderen Jungen aus dem Dorf dem Waisen zu folgen, sich aber außer Sichtweite zu halten und nur ab und zu einen Vogel zu schießen. Als der Junge den Waisen in der Lichtung zur Rede stellte, erklärte der Waise alles und bot ihm an, ebenfalls zuzuhören, da es sehr interessant und aufschlussreich sei. Nun saßen sie zu zweit und hörten dem Stein gespannt zu. Tag für Tag ließen sie sich von dem Stein Geschichten erzählen und die Leute im Dorf wurden immer misstrauischer. Daher beaufragte die Mutter zuzüglich zwei Männer, dem Waisen zu folgen und das Geheimnis zu lüften. Diese kamen ebenfalls zwar hinter das Geheimnis aber gaben es auch nicht preis. So saßen sie also zu Viert um den Stein und hörten sich an was der weise Stein zu sagen hatte. Tag für Tag und Woche für Woche.
Als die Zeit verging und es wieder Zeit für die Heimkehr war sagte der Stein: „Morgen sollen alle Leute des Dorfes kommen und mir zuhören. Sagt ihnen, dass jeder etwas zu essen mitnehmen soll. Das Gestrüpp müsst Ihr auch entfernen, damit die Leute auf dem Boden ringsum sitzen können.“ Und so berichteten die Vier bei Ihrer Ankunft im Dorf dem Häuptling von den ganzen Vorkommnissen und der Botschaft. Der Häuptling sandte einen Boten aus, welcher die Nachricht in jedes Haus des Dorfes trug. Am nächsten Tag versammelte sich das genze Seneca-Dorf um den Stein. Der Stein begann sogleich weiter zu berichten, was sich vor langer Zeit in dieser Welt und der Welt davor ereignet hat. Er betonte zum Abschluss, dass alles, was er erzählte, in der anderen Welt – der Welt davor – geschah.
Anstatt zu seinem üblichen Schlusswort zu kommen sagte er: „Ich bin zu Ende. Jetzt müsst Ihr die Geschichten bewahren, solange die Welt besteht. Erzählt sie Euren Kindern und Enkelkindern, Generation nach Generation. Der Eine kann sich besser erinnern an sie als der Andere.
Quelle: Ella Elisabeth Clark, Indianische Legenden aus Nordamerika, Diederichs, Januar 1998
Indianische Legenden aus Nordamerika.
Bei den Indianern Nordamerikas spielten die Geschichtenerzähler immer schon eine herausragende Rolle: Sie verbanden die Funktion des Philosophen, des Historikers und des Unterhalters. In den Schöpfungs- und Naturmythen, den Tierfabeln und Legenden verschmelzen persönliche Schilderungen mit historischen Überlieferungen, phantastische und religiöse Elemente mit praktischen. Bei der Lektüre dieses Buches wird die magische Wirkung der Kommunikation um die Lagerfeuer spürbar, werden indianische Kultur und mündliche Erzähltradition lebendig.