Germanischer Schamanismus

Es gibt unzählige Berichte und Artikel über den Sinn und Unsinn des germanischen Schamanismus und ob dieser jemals existiert hat – es gibt aber ebenso viele Anhaltspunkte, die für eine schamanische Religion der Germanen sprechen.

Kosmologie

In der germanischen Mythologie gibt es einen Weltenbaum namens Yggdrasil, der neun Welten miteinander verbindet. Diesen Weltenbaum soll den Überlieferungen zu Folge eine Esche repräsentieren, in welcher die Krone die obere Welt und die Wurzeln die untere Welt darstellen, in denen Götter und Fabelwesen wohnen – während die Welt der Menschen zwischen diesen beiden Welten liegt. Der Stamm verbindet alle 3 Welten miteinander, von denen nochmals 3 Verbindungen zu weiteren Welten ausgehen, sodass man auf insgesamt 9 Welten kommt. In den schamanischen Kulturen des Nordens von Nordamerika, Europa und Asien finden sich ähnliche Vorstellungen des Weltenbaums wie sie von Yggdrasil berichtet werden. Ein Weltbild, in der nicht nur die menschliche Welt vorkommt und alle Wesen und Welten miteinander verbunden sind, ist für eine schamanische Kultur sehr entscheidend – und das war auch bei den Germanen nachweislich der Fall. Der Weltenbaum war nicht einfach nur ein religiöses Weltbild, sondern eine praktische Landkarte mit deren Hilfe germanische Schamanen im Weltenbaum Auf- und Abstiegen und so die verschiedenen Welten schamanisch bereisen konnten. Allerdings galt der Weltenbaum Yggdrasil darüber hinaus auch als Opferbaum, da sich Odin einst an diesem aufhängte, um das Wissen der Runen zu erlangen. Dies erinnert stark an eine Schamaneninitiation, wie sie auch in den Traditionen anderer schamanischer Kulturen zu finden ist, doch dazu später mehr.

Seidr – Nordische Magie

Germanischen Schamanismus hat es eigentlich nur indirekt in Form einer speziellen Magieform gegeben, die viele zentrale schamanische Elemente beinhaltet. Diese Form der nordischen Magie ist auch als Seidr (Seid Kunst) bekannt. Seidr kommt von „sieden“ und bezieht sich auf den Kessel, in dem gesiedet und gebraut wird. Symbolisch gesehen ist der Kessel ein Ur-Weibliches Gefäß, da in dem Kessel lebenswichtige Dinge wie z.B. Kräutertränke und Eintöpfe erschaffen werden. In fast allen indigenen Kulturen ordnet man der Frau Leben schaffende wie z.B. Geburt und lebenserhaltende Eigenschaften z.B. Heilen und Nahrungszubereitung zu. Es ist überliefert, dass Freyja von Odin die Kunst Galdr (Runengesang und Poesie) lernte und im Gegenzeug Odin die Kunst des Seidr lehrte. Die Seidr-Magie beinhaltet u.a. Kräuterkunde, Seelenreisen, Orakeln und Magie.

Odin praktizierte und beherrschte die Kunst, die am mächtigsten ist, und Magie („seiðr“) genannt wird, und dadurch kannte er das Schicksal der Menschen und die Gefahren der Zukunft und ebenso, wie man einem Menschen den Tod oder Unglück oder eine Krankheit bringt und wie man die Menschen um Kraft und Verstand bringt und sie jemand anderem gibt. Aber mit dieser Weisheit war so große Schande verbunden, dass die Männer meinten, sie könnten sie nicht ohne Schande ausüben und darum brachte man diese Kunst den Priesterinnen bei. Ynglinga Saga, Kap. 7

Das Wort Seidr könnte aber ebenso seinen Ursprung im irischen „Sid“ haben, welches „Anderswelt“ bedeutet und auf die enge Verbindung der Seid-Künste zur Anderswelt hindeutet. Unter manchen Neoschamanen, Ásatrú und Heiden heißt es deshalb, dass Seidr eine „weibliche“ Form der Magie wäre, weil sie ursprünglich von einer Göttin (Freyja) praktiziert wurde und mit den Seherinnen (Völvas) zusammenhing. Galdr hingegen soll eher die „männliche“ Form der Magie sein, weil sie ursprünglich von einem Gott (Odin) ausgeübt wurde. Es ist aber auch so, dass es bei den Germanen und Kelten eher die Frauen waren, die schamanisch Tätig waren. Dies wiederum bestätigt die Wortherkunft vom Sieden im weiblichen Kessel.

Aus diesem Grund soll auch Seidr auch eher den Frauen vorbehalten sein und Galdr den Männern. Allerdings ist Seidr im Altnordischen der Oberbegriff für jegliche Form der Magie. Aus mehreren Schriftstücken geht hervor, dass es sowohl Seidrmänner, als auch Seidrfrauen gegeben hat, was darauf hinweist, das Seidr Magie keinem bestimmten Geschlecht zugeordnet ist. Die wahre Trennung von Galdr und Seidr scheint vielmehr praktischer Natur zu sein. Während Galdr passive Techniken der Magie wie z.B. die Wahrsagekunst beinhaltet, so beinhaltet Seidr ehr die aktiven Techniken der Magie wie z.B. Trance, Fruchtbarkeits-, Wetter-, Liebes- und Gesundheitszauber. Allerdings ist die Trennung der beiden Formen stark umstritten – nicht zuletzt deshalb, weil einfach zuverlässige Quellen dafür fehlen. Zumindest ist Seidr in einigen Teilen mit dem vergleichbar, was wir heute als Schamanismus bezeichnen. Vereinfacht ausgedrückt: Seidr und Galdr könnten der Schamanismus der Germanen gewesen sein.

Seidr heute

Leider wird Seidr heutzutage immer weniger als schamanisch betrachtet, da viele okkulte Gruppierungen Seidr für sich beanspruchen, ihn zur germanischen Magie umfunktionieren und in neuheidnischem Kontext – gemeinsam mit Chaosmagie und Wicca – anwenden. So ist es nicht verwunderlich, dass Neuheiden unter Seidr ekstatisches Rumzucken unter Drogeneinfluss mit Hilfe von GOA-Trance oder GOA-Rock verstehen – was natürlich falsch ist. So kommen Außenstehende zwangsweise zur folgenden Schlussfolgerung:

Seidhr ist die Ausübung okkulter Praktiken vor dem Hintergrund der nordisch-germanischen Mythologie.

Allerdings ist Seidr – von der Wortbedeutung her – die Magie der Germanen und germanischen Gruppen allgemein und nicht ausschließlich eine hippieähnliche Trancemethode. So käme man allerdings zur Schlussfolgerung, dass Seidr nicht schamanisch ist. Doch das ist nur teilweise richtig und durch solche Halbwahrheiten verlieren sich die Spuren des ursprünglichen Seidr immer mehr und es wird immer schwerer, zuverlässige Informationen über Seidr und seine Anwender in der damaligen, als auch heutigen Zeit zu finden – geschweige denn, wie schamanisch Seidr wirklich ist!

Germanische Schamanen

Alle Völker, denen wir heutzutage eine schamanische Tradition zuordnen, hatten ihre Schamanen, nur haben sie diese anders genannt, da der Begriff des Schamanen erst im 17 Jhd. eingeführt wurde. In Nordamerika bezeichnete man sie eher Medizinmänner und -frauen, in Afrika als Buschmänner und bei den Germanen waren es die Seidrmänner und -frauen, welche dem Bild eines Schamanen am ehesten entsprechen. Sieht man jedoch noch genauer hin, dann entdeckt man in der germanischen Mythologie so einige schamanische Züge.

Odin, der Ur-Schamane

Odin ist der Name eines nordgermanischen Gottes, der bei den Südgermanen auch als Wotan und bei den Angelsachsen als Woden bekannt ist. Man kann sagen, dass Odin den germanischen Archetypus eines Schamanen repräsentiert, während Merlin den des keltischen Druiden verkörpert. Es gibt in der Mythologie einen unverkennbaren, schamanischen Initiationsritus von Odin höchstpersönlich, welcher ihn die Weisheit und Magie der Runen einweihte.

Ich weiss, dass ich hing am windigen Baum, neun Nächte lang, mit dem Ger verwundet, geweiht dem Odin,
ich selbst mir selbst, an jenem Baum, da jedem fremd, aus welcher Wurzel er wächst.

Oft genug liest man zwar, dass es bei den Germanen keine Schamanen gegeben haben kann, weil die entsprechende gesellschaftliche Stellung fehlte. Blickt man jedoch auf den Ur-Schamanen und Göttervater Odin höchstpersönlich, stellt man fest, dass viele Götter von ihm abstammen – was ihm auch einen entsprechenden Rang und eine Stellung in der Götterwelt verlieh. Spinnt man diesen Faden weiter hatten ebenso jene Seidrmännern und -frauen einen hohen gesellschaftlichen Rang, da sie ständig mit der Geisterwelt und dem Ur-Schamanen durch Magie in Verbindung standen.

Krafttiere und Gestaltwandler

Eine weitere schamanische Fähigkeit Odins war das Gestaltenwandeln. Er konnte jede beliebige Gestalt annehmen, die er wollte und konnte so unerkannt als Adler oder Schlange andere Welten oder Götter erkunden. So wie man es auch heute noch von Schamanen aus anderen Kulturen kennt, konnte Odin ebenfalls in Tiere oder Menschen hineinschlüpfen und so die benötigten Informationen aus der Anderswelt beschaffen. Des Weiteren ist Odin sowohl zwei Raben, als auch zwei Wölfe begleitet, die man durchaus als seine Krafttiere betrachtet kann – zumindest die Wölfe, denn die Raben Hugin und Munin stehen eher für die zwei Wissens-Aspekte Odins: Sinn (Zukunft) und Erinnerung (Vergangenheit). Mit den Wölfen fühlte sich Odin aber so sehr verbunden, dass er sogar selbst manchmal als Wolf abgebildet wird. Neben Tyr ist Odin der am meisten mit den Wölfen assoziierte Gott, der Anderen oftmals auch als Wolf erscheint (vgl. Gestaltenwandeln) – weshalb man ihn manchmal auch durch einen Wolfskopf abbildet.

Sleipnir, das Schamanenpferd

Sleipnir und Odin Dann gibt es da noch Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir, welches „der Dahingleitende“ bedeutet. Diesen Namen bekam es, da es zu Lande, zu Wasser und in der Luft gleichermaßen „dahingleitet“. Man geht davon aus, dass mit dem achtbeinigen Pferd ein Sarg gemeint ist, der von vier Menschen (mit jeweils zwei Beinen) getragen wird. Odin selbst soll im Sarg in tiefer Trance liegen und so seine schamanische Reisen unternehmen. Mircea Eliade schreibt, dass man das Schamanenpferd auch in Sibirien, Japan und bei den Muria im Zusammenhang mit dem ekstatischen Erleben antrifft. Mit Hilfe von Sleipnir reiste Odin durch die verschiedenen Welten – so wie es für einen Schamanen typisch ist. Möglicherweise findet hier auch die Redewendung „Die Trommel ist das Pferd des Schamanen“ ihren Ursprung. Im Übrigen ist Sleipnir laut einer Sage, auch der Grund, warum die Ásbyrgi-Schlucht auf Island die Form eines Hufeisens hat. In einer Sage heißt es, dass Odin einst mit Sleipnir über die Arktis ritt, Sleipnir ausrutschte und einen Fuß auf Nordisland setzte. Deshalb wird die Schlucht gelegentlich auch als Odins Fußabdruck bezeichnet.

Germanischer Schamanismus heute

Auch wenn bis heute nicht eindeutig geklärt werden konnte, ob und in welcher Form es den uns heute bekannten Schamanismus bei den Germanen gegeben hat, so gibt es mittlerweile mehrere – teilweise recht erfolgreiche – Rekonstruierungsversuche. Hierzu werden von den Praktizierenden die Mythologie und das Pantheon der Germanen mit schamanischen Techniken aus dem Kern-Schamanismus verbunden.

Die germanische Kultur wurde von einer schamanischen Mythologie getragen, ihre Spiritualität wurde durch heilige Pflanzen, psychoaktives Räucherwerk und Rauschtränke inspiriert. Der Tempel der Germanen war der Wald, der Heilige Hain. Die Bäume waren Gottheiten, und die Pflanzen hatten Zauberkraft. (Christian Rätsch)

Damit bekommen die schamanischen Techniken aus dem Kern-Schamanismus einen Rahmen, in dem sie praktizierbar werden, denn sie ansonsten aber auch nicht hätten. Denn Kern-Schamanismus nach Michael Harner allein beinhaltet lediglich die Techniken verschiedener schamanischer Kulturen, jedoch keine bestimmte Religion oder Tradition einer bestimmten schamanischen Kultur – welche für schamanisches Arbeit unerlässlich ist. Ohne Glaubensbild keine Religion, ohne Mythologe und Pantheon kein Schamanismus. Wenn man also diese schamanischen Techniken geschickt am germanischen Glauben anknüpfen, kann man dies durchaus als erfolgreichen Versuch einer Rekonstruktion des germanischen Schamanismus gelten lassen. Man muss aber Vorsicht walten lassen, da Neopaganismus und Nationalsozialismus sich nach wie vor gerne unter das Heidentum mischen, um es für ihre Zwecke zu nutzen – leider auch zum Nachteil des germanischen Schamanismus. So findet man heute nur Wenige, die tatsächlich germanischen Schamanismus leben aber Viele, die braune Esoterik und neuesoterisches Hexentum unter dem Deckmantel germanischer Magie praktizieren.

Fazit: Das heidnische Erbe kann uns zu unseren schamanischen Wurzeln zurückführen.

Demnach bleibt uns nur das Leben und Praktizieren der alten Tradition, angelehnt an das Wissen der „Alten“, aber angepasst an unsere heutige Lebensform. Wir müssen den Mut haben, über die vielen Seiten der Edda hinauszuschauen, anstatt uns wie bibelfeste Christen daran zu klammern. Wenn wir jemals unsere schamanischen Wurzel wiederbeleben wollen, müssen wir mehr tun, als nur Edda-Stellen zu zitieren und sie uns gegenseitig an den Kopf zu werfen. Wir müssen die Edda wie die Bibel als an manchen Stellen nicht ganz korrekte Übersetzung und Nacherzählung eines Glaubens unserer Vorfahren sehen und das daraus sprechende Wissen auf die heutige Zeit anwenden. Zeitgenössischer germanischer Schamanismus ist also die einzige Möglichkeit, die uns noch bleibt, wenn wir unsere Wurzeln nicht sterben lassen und das alte Wissen der Germanen nicht verlieren wollen.